Sie muss ihren Bruder finden, bevor die Polizei es tut.
Er ist attraktiv, geheimnisvoll – und ein Cop.

Seit sich ihr Bruder der Straßengang »The Emerald Fighters« angeschlossen hat, steckt er in Schwierigkeiten. Nun wird er vermisst, einer schweren Straftat beschuldigt und Larissa gerät ins Visier seiner Feinde. Sie will seine Unschuld beweisen und ihn finden, bevor die Polizei ihn schnappt.

Ausgerechnet jetzt begegnet ihr Maxwell. Dieser unnahbare Fremde schafft, was noch keinem Mann vor ihm gelungen ist: Er erobert Larissas Herz. Aber wird er seinen Platz in ihrem Leben behaupten können, wenn sie erfährt, wer er wirklich ist?

Emerald Secrets – Herzklopfen in Seattle. Spannend. Romantisch. Leidenschaftlich.

Kapitel 1

»Nie wieder werde ich Burritos essen.« Die Stimme meines Kollegen ertönt über das Mikro in meinem Ohr.

»Wieso? Ich liebe Burritos.« Stirnrunzelnd beobachte ich die Verkaufsstände in der Markthalle.

»Auf keinen Fall, Max. Würdest du neben mir stehen und das Gleiche sehen wie ich, du würdest nie wieder einen anfassen wollen. Der Typ hat sich mit dem Finger das Ohr geputzt, nun bereitet er den nächsten Snack zu. Ich will nicht wissen, was da jetzt alles drinsteckt.«

Während ich mir bildlich vorstelle, wie Sean besagten Stand observiert und sich dabei seine Zehennägel vor Ekel zusammenrollen, verziehe ich meine Lippen zu einem Grinsen. Tröstend werfe ich ein: »Das ist gewiss eine Ausnahme.«

»Gott, ich krieg das nicht mehr aus dem Kopf!«

Abermals durchfährt mich ein leises Lachen.

»Haltet den Kanal frei für wichtige Konversation!«

Tomas spricht stets nur das Nötigste. An seinem Tonfall erkenne ich, wie angepisst er ist. Sogleich werde ich ernst und konzentriere mich auf den Job, wegen dem wir hier sind. Meine Kollegen und ich haben uns im Pike Place Market verteilt, einer der ältesten und größten Markthallen des Landes. Die Verkaufsstände schließen in einer knappen Stunde. Hier ist es so voll wie zur Rushhour auf den Straßen Seattles.

Ideale Bedingungen für unser heutiges Ziel. Der Dealer, auf den wir es abgesehen haben, nutzt die Anonymität der Massen, um seine Drogen zu verticken. Wenn er einen guten Lauf hat, nimmt er auch noch die Tageseinnahmen von manch einem Händler mit. Lewis gehört zu einer Gang, die wir seit Längerem im Visier haben. Wenn wir ihn heute auf frischer Tat erwischen, packt er vielleicht aus.

Nein, er packt ganz sicher aus. Dafür haben wir unsere Methoden. Und dann können wir bald weitere Mistkerle hinter Gitter bringen. Nicht nur die kleinen Handlanger, sondern vor allem die großen Fische, die im Hintergrund agieren.

Wann wird er endlich aktiv? Seit zwei Stunden stehe ich mir die Beine in den Bauch. Regelmäßig wechsle ich die Position, um nicht aufzufallen. Aus diesem Grund bin ich auch in Zivil unterwegs.

Auf einen zufälligen Beobachter wirke ich gewiss wie ein freudloser Ehemann, wartend auf seine Frau, während diese beim Shoppen sein letztes Geld verprasst. Zwar bin ich nicht verheiratet – ich habe aktuell nicht mal eine Freundin –, aber so in etwa stelle ich mir das vor.

Innerlich bin ich zum Sprung bereit. Ich möchte die Mistkerle stellen, die die Straßen meiner Stadt unsicher machen.

Ich lasse meinen Blick schweifen. Vor einem Mini-Atelier sitzt ein Kunde Porträt, ein Schmuckhändler versetzt preiswerten Tand. Einen Stand weiter liegen Tücher und Sonnenhüte zur Anprobe aus.

Aus der Ferne weht der verführerische Duft von gebratenem Fleisch zu mir und erinnert mich daran, dass ich seit Stunden nichts gegessen habe. Mein Magen knurrt. Jetzt wäre Zeit für einen Imbiss. Allerdings weiß ich nicht, wann genau unser Mann zuschlägt. Kommt sicher nicht gut an, ihn mit vollem Mund zu stellen.

Ich atme tief durch und bemühe mich, das Verlangen nach etwas Essbarem auszublenden, während ich weiter meine Umgebung observiere. Nach Feierabend werde ich mir einen Burrito genehmigen – oder etwas anderes. Seans Worte sind noch präsent in meinem Kopf.

Mit einem Schlag vergeht das Hungergefühl. Mein Blick bleibt bei einem Obst- und Gemüsestand hängen, an dem eine asiatische Verkäuferin ihre Waren anpreist. Aber nicht ihr oder der farbenfrohen Auslage widme ich meine Aufmerksamkeit, sondern der jungen Frau, an die sie ihre Worte richtet.

Ihr blondes Haar wellt sich an den Spitzen und umringt ihr Gesicht wie eine himmlische Aura. Sie strahlt eine Fröhlichkeit aus, die ich schon lange nicht mehr verspürt habe. Jetzt lacht sie über eine Bemerkung der Verkäuferin. Wie durch Magie verbunden bringt sie damit auch mich zum Lächeln.

Binnen Sekunden zieht sie mich in ihren Bann. Jede einzelne Zelle in mir spricht auf sie an. Mein Körper versteift sich erwartungsvoll, als er dieses neue Ziel anvisiert.

Sie umklammert die Handtasche so fest, wie ich am liebsten sie in meinen Armen halten möchte. Ich lasse meinen Blick genüsslich über ihren Körper schweifen, nehme das hellbraune Kleid in Augenschein, das sich an ihre schlanke Gestalt schmiegt und auf Höhe der Waden endet. Beige Pumps mit kleinem Absatz runden das Erscheinungsbild ab.

Nur mit Mühe halte ich mich davon ab, zu ihr zu gehen. Schon lange habe ich nicht derart auf eine Frau reagiert. Vergessen ist der Burrito, mein knurrender Magen oder der Drogendealer, wegen dem ich herkam.

Der Dealer, verdammt!

Heiß schießt mir der Gedanke durch den Kopf. Ihn hatte ich für kurze Zeit vergessen! Widerwillig wende ich mich ab und sichte die umliegenden Gänge. Noch ist die Luft rein. Dennoch wächst in meinem Inneren ein ungutes Gefühl. Was, wenn unser Einsatz schiefgeht? Wenn es zu einem Schusswechsel kommt?

Abermals blicke ich zu der jungen Frau. Sie zeigt auf verschiedene Waren in der Auslage, die die Verkäuferin nun für sie in einer Papiertüte verstaut. Ungern möchte ich die Kleine in der Nähe wissen, wenn wir zuschlagen. Am liebsten würde ich auf mein Bauchgefühl hören, sie wie ein Barbar packen und hinausschleifen, irgendwohin, wo sie in Sicherheit ist.

Es kostet mich alle Kraft, es nicht zu tun. Allmählich zweifle ich an meinem Verstand. Ich kenne sie nicht einmal.

»Ich sehe das Ziel!« Tomas’ Worte bringen mich schlagartig zurück zu meiner Pflicht. »Schwarzer Hoodie, ausgebeulte Jeans. Er geht zum Fischstand.«

Zwar weiß ich, in welchem Teil des Marktes sich Tomas aufhält. Aber hier gibt es Dutzende Geschäfte und Restaurants, in denen Fisch und Meeresfrüchte feilgeboten werden.

»Zu welchem?«, frage ich gereizt. Etwas genauere Informationen brauche ich schon.

»Jack’s.«

Kein Wort zu viel. Mürrisch schüttele ich den Kopf.

»Team eins zu Jack’s«, weist der Chief an. »Zwei und drei bleiben an ihrem Standort und sichern die Fluchtwege.«

Team drei, das sind Tomas, Sean und ich. Eigentlich gehört noch Barry dazu, aber der hat sich vor einer Weile das Bein gebrochen und fällt vorerst aus.

Plötzlich wird es hektisch. Über das kleine Gerät in meinem Ohr höre ich jeden Laut. Meine Kollegen sind dabei, den Dealer dingfest zu machen. Am liebsten würde ich helfen, doch Befehl ist Befehl. Es poltert, dumpfe Schläge ertönen. Zum Glück löst sich kein Schuss. Flüche erklingen, dann schmerzerfülltes Stöhnen.

»Er flieht Richtung Pine Street!«

Das ist mein Signal.

»Verstanden«, antworten Sean und ich gleichzeitig. Ich renne los.

In einiger Entfernung entsteht ein Tumult. Kurz darauf entdecke ich den Gesuchten. Der Mann ist nicht zimperlich bei seiner Flucht durch die Massen. Er setzt seine Ellenbogen ein, wo immer es geht, rempelt umstehende Menschen an. Einige wenige stürzen, viele rufen ihm hinterher.

Aus den Augenwinkeln erkenne ich Sean, der ihm den Weg abschneiden will. Der Dealer entdeckt ihn ebenfalls und wechselt die Richtung. Fort von ihm, direkt auf mich zu.

Wir nähern uns einander im Eiltempo. Jetzt bemerkt er auch mich und schlägt einen Haken. Verdammt, ist er schnell!

»Er flieht durch die Post Alley zur Stewart Street«, höre ich meinen Kollegen über das Ohrmikro sagen.

»Ich schneide ihm über die First Avenue den Weg ab«, erklingt die Antwort eines anderen.

»Bin dran«, stoße ich zwischen zwei Atemzügen hervor. Ich habe nicht vor, ihn bis dorthin kommen zu lassen.

Ich folge ihm dichtauf, kann aber die letzten Meter Abstand kaum verringern. Während er durch die Menge sprintet, fährt seine Hand plötzlich nach hinten unter die Jacke. Gar nicht gut. Vermutlich trägt er dort eine Waffe. Wenn er sie zieht, gibt es Kollateralschäden. Dass er sie bis jetzt nicht eingesetzt hat, lässt mich hoffen, dass auch er sich dessen bewusst ist. Vielleicht hat er noch ein Gewissen.

Abermals stößt er Menschen aus dem Weg, wird dabei langsamer. Nur wenig, aber das genügt mir.

Ich setze zum Sprung an. Die Arme nach vorn ausgestreckt, pralle ich auf seinen Rücken und kralle mich an seinen Schultern fest. Mein Schwung reißt ihn zu Boden. Durch den Aufprall vergeht mir der Atem, aber rasch habe ich mich wieder unter Kontrolle. Ich komme auf ihm zum Liegen, mein Gewicht drückt ihn nach unten. Der Mann windet sich wie eine Schlange. Nur mit Mühe halte ich ihn fest.

Seine Hand macht sich zwischen uns zu schaffen. Gerade noch kann ich verhindern, dass er die Waffe zieht. Ich schlage seine Hand fort, schnappe mir die Pistole aus seinem Hosenbund und schiebe sie beiseite.

Ich muss beide Arme und Knie einsetzen, um ihn zu bändigen.

Er beleidigt mich mit wüsten Worten, befreit einen Arm und rammt mir den Ellenbogen in die Brust.

Ich ächze vor Schmerz, drücke ihn aber weiter mit meinem Gewicht zu Boden. Dann packe ich seine Arme und halte sie hinter seinem Rücken verschränkt.

»Gesichert!« Mehr kann ich nicht sagen. Ich bin aus der Puste und benötige all meine Kraft, um ihn am Boden zu halten. Der Kerl windet sich und tritt um sich. Mit einer Hand filze ich ihn.

»Darf ich, bitte?«

Erleichtert hebe ich den Kopf, als ich Seans genervte Stimme höre. Um uns herum hat sich eine schaulustige Menschenmenge versammelt. Einige zücken sogar ihre Handys. Ist das denn zu fassen?

Sean, der sich durch die Menge schiebt, starrt jeden böse an, der ihm nicht sofort Platz macht. Ich kenne diesen Blick. Gleich läuft er zur Höchstform auf.

»Dies ist eine polizeiliche Maßnahme. Machen Sie Platz! Gehen Sie einige Schritte zurück! Und stecken Sie, verdammt noch mal, Ihre Handys weg! Jedes Gerät, das diesen Einsatz filmt, wird als Beweismittel beschlagnahmt!« Da auch er in Zivil gekleidet ist, hält er seine Polizeimarke gut sichtbar in die Höhe.

Seine Worte erzielen die gewünschte Wirkung. Die Leute bilden eine kleine Gasse, damit er ungehindert zu mir durchdringen kann. Die Smartphones verschwinden in den Taschen, so schnell wie sie erschienen sind.

Soeben erklärt Sean den Kollegen über Funk, wo genau sie uns finden können. Als er bei uns ist, legt er dem Dealer Handschellen an und belehrt ihn über seine Rechte.

Ich bin erleichtert, die Last teilen zu können. Langsam erhebe ich mich. Dann verpacke ich die Pistole des Mannes sowie das Geldbündel und die Drogen, die ich bei ihm sichergestellt habe, in durchsichtige Folien.

Jetzt treffen Tomas und die anderen ein. Schlagartig sorgen sie dafür, dass sich der Radius um uns vergrößert und wir wieder befreit durchatmen können. Nach und nach löst sich die Menschenmenge auf.

»Gute Arbeit, Dawson!«

Selten genug hört man ein Lob vom Chief. Darum habe ich auf die Schnelle gar keine Antwort parat. Stattdessen liste ich ihm sämtliche Gegenstände auf, die ich bei dem Täter sichergestellt habe.

»Tomas Klein soll die Beweise aufs Revier bringen. Wir sehen uns dann dort.« Er nickt mir abschließend zu.

Ich übergebe die Utensilien an Tomas.

Als er geht und sich meine Kollegen um den Abtransport des Verhafteten kümmern, verschwinden auch die letzten Schaulustigen um uns herum. Es gibt für sie nichts Interessantes mehr zu beobachten.

Eine Weile stehe ich da, in Gedanken versunken, aber zugleich zufrieden mit meiner Arbeit. Oft genug entkommen uns solche Wichte oder es gibt Schäden und Verletzte. Heute verlief alles nach Plan. Wir dürfen stolz auf das Geleistete sein, dennoch fühle ich mich irgendwie unzufrieden.

Allmählich erfasse ich das Chaos ringsum.

An mehreren Stellen entdecke ich Menschenansammlungen. Vermutlich gibt es Verletzte. Kollegen meiner Einheit sind bereits mit der Schadensbegrenzung beschäftigt, leisten Erste Hilfe, nehmen Zeugenaussagen auf.

»Kommst du?«, fragt mich Sean.

»Geh schon vor. Ich hole mir noch eine kleine Stärkung, bevor hier alles dichtmacht.«

»Einen Burrito?«, fragt er grinsend. »Ich könnte dir da einen ganz besonderen Stand empfehlen.«

Ich muss lachen. »Lass gut sein. Ich verlasse mich lieber auf meine Spürnase.«

»Du verpasst was«, sagt er mit hörbarem Lächeln, bevor er davongeht.

Abermals blicke ich mich um. An der Stelle, wo ich zu Beginn meines Einsatzes stand, gab es mehr als genügend Imbissbuden. Schon setze ich mich in jene Richtung in Bewegung.

Etwa fünfzig Meter entfernt sehe ich eine ältere Dame am Boden liegen. Um sie kümmert sich noch keiner meiner Kollegen.

Ich bemerke sie vor allem, weil neben ihr die junge Frau kniet, die mir zuvor schon am Obststand aufgefallen war. Ich sehe sie zwar nur von hinten, aber an der Kleidung und den Haaren erkenne ich sie. Ist sie etwa auch verletzt?

Im Laufschritt eile ich zu ihnen. Als ich näher komme, erkenne ich über den Boden verstreut Sachen. Zwei Handtaschen, einen Beutel, dazu Kleinigkeiten, die vermutlich herausgefallen sind.

Die Verkäuferin am benachbarten Obststand schimpft lauthals in ihrer Muttersprache, irgendeinem chinesischen Dialekt. Zwei Passanten, die sie offenbar verstehen, unterstützen sie verbal.

Ich ignoriere das Gezeter. Im Moment habe ich nur Augen für die junge Dame. Noch während ich mich ihr nähere, erfasse ich ihre Haltung. Ist der Fuß verknackst? Hält sie sich ein schmerzendes Knie?

Als ich endlich auf ihrer Höhe ankomme, bin ich zuversichtlich, dass sie unversehrt ist. Sie kniet lediglich am Boden, um sich um die ältere Dame zu kümmern. Erleichtert atme ich aus. Erst jetzt bemerke ich, wie angespannt ich bis eben war.

Ein Mann, der neben den Frauen steht, ruft übers Telefon einen Krankenwagen.

»Ich will nicht in die Klinik«, sagt die ältere Dame immer wieder.

»Ma’am, ist alles in Ordnung bei Ihnen?« Ich gehe neben der älteren Frau in die Hocke. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

Verwirrt blickt sie zu mir. »Mir geht es gut … denke ich.«

Das glaube ich kaum. Warum sonst sollte sie hier liegen? Hoffentlich hat sie sich nichts gebrochen. Oder den Kopf angeschlagen. Ich spreche keine meiner Sorgen aus. Es hilft ihr nicht, wenn ich sie beunruhige. »Wie heißen Sie?«

Sie überlegt.

»Ihr Name, Ma’am«, frage ich eindringlicher.

Vielleicht sollte doch ein Arzt nach ihr sehen? Sie könnte durch den Aufprall ein Trauma erlitten haben.

»Agatha«, antwortet sie zögernd. »Mein Name ist Agatha.«

Sie erinnert sich. Das ist gut.

Aufmunternd lächle ich sie an. »Hallo, Agatha. Ich bin Maxwell.«

»Sie wurde von diesem Rüpel umgerannt.« Die sanfte, melodische Stimme neben mir zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Auch wenn sie im Moment empört ist, so ist es doch das Wohlklingendste, das ich seit Langem gehört habe.

Erstmals sehe ich die junge Frau aus der Nähe an, bemerke die feinen Gesichtszüge, die herzförmige Kopfform, ihre makellose Haut, die dezent geschminkt ist. Ich sehe in ihre Augen, die mich ebenso eingehend betrachten. Ein wunderschönes Blau-Grün. Mehr Grün als Blau, wenn man es genau nimmt.

»Haben Sie ihn gesehen?«, fragt sie mich. »Diesen Typen, der vorhin durch die Gänge gerannt ist? Er hat einfach jeden beiseite gestoßen, der nicht schnell genug aus dem Weg war.«

Ich habe ihn sogar geschnappt. Aber das reibe ich ihr nicht unter ihre süße Nase. Verlegen räuspere ich mich. »Nicht … wirklich«, antworte ich. Es fällt mir gerade schwer, einen klaren Gedanken zu formulieren, geschweige denn einen ganzen Satz.

Ihretwegen.

Noch vor einer Stunde hätte ich alles dafür gegeben, sie anzusprechen und näher kennenzulernen. Jetzt habe ich sogar das Sprechen verlernt?

Ich weiß nicht, wie ich mir unsere erste Begegnung vorgestellt habe. Auf jeden Fall wäre ich dabei im Vollbesitz meiner Sinne gewesen. Vielleicht kombiniert mit wildem Herztrommeln. Dazu Fanfaren und Trompeten? Tatsächlich fühle ich nur Bedauern, dass ich der einzigen Frau, die es seit Langem geschafft hat, meine männlichen Instinkte anzusprechen, nicht die Aufmerksamkeit widmen kann, die sie verdient. Das ist leider ein total ungünstiger Zeitpunkt!

Ich muss mich zwingen, sie nicht anzustarren. Auch wenn sich in mir alles sträubt, mein Augenmerk von ihr wegzulenken, so ist im Moment Agatha diejenige, die Hilfe benötigt.

»So jemand gehört eingesperrt!« Auch wenn sie immer noch schlapp am Boden liegt, klingt Agathas Stimme bereits kraftvoll. »Das war bestimmt ein Ladendieb!«

»Agatha, können Sie die Zehen bewegen?«, frage ich, ohne weiter auf ihre Bemerkung einzugehen.

»Meine Zehen?«

Ich nicke aufmunternd. »Falls nichts verletzt ist, können wir versuchen, Sie vorsichtig aufzusetzen. Was halten Sie davon?«

Sie nickt energisch. Kurz darauf sehe ich, wie sie mit den Füßen wackelt.

Ich freue mich mit ihr. »Das ist gut. Und die Arme?«

Sie hebt einen nach dem anderen an und wackelt dazu mit den Fingern.

»Fühlen Sie irgendwo im Körper Schmerz?«

Sie überlegt eine Weile, dann schüttelt sie den Kopf. »Höchstens am Hintern, aber das ist ja verständlich.«

Ich lächle sie an. Ihren Humor hat sie zumindest behalten …

»Ich komme trotzdem nicht hoch!«

… und auch den sturen Tonfall, den ältere Menschen oft bei Jüngeren anschlagen.

»Machen Sie sich keine Sorgen«, beruhige ich sie. »Das haben wir gleich.«

Ich erhebe mich aus der Hocke und beuge mich vor.

In dem Moment kommt Bewegung in sie. Sie möchte allein aufstehen, schafft es aber nicht.

»Kommen Sie, Agatha. Wir helfen Ihnen auf die Beine«, sagt die junge Frau neben ihr.

Sie nickt mir zu, ein warmes Lächeln auf den Lippen. Ein Zeichen, dass wir es gemeinsam schaffen werden.

Ich wende den Blick ab und konzentriere mich stattdessen auf die am Boden liegende Person. Vorsichtig packe ich sie unter den Achseln und hebe ihren Oberkörper an, bis sie aufrecht sitzt. Dann bringe ich mich hinter ihr in Position.

»Wie kann ich helfen?«, fragt die junge Frau.

»Da sollte wohl besser ich mit anpacken.« Der Mann, der vorhin den Krankenwagen gerufen hat, tritt einen Schritt vor. Ganz offensichtlich will er nicht unnütz daneben stehen.

Vielleicht will er aber auch nur die Kleine beeindrucken. Sofort regt sich Widerstand in mir. »Das mache ich allein.«

Immerhin ist Agatha nicht sehr groß. Sie wird nicht allzu schwer sein. Da habe ich schon ganz andere Gewichte gestemmt dank meines Jobs. Ich fahre mit meinen Armen unter ihren Achseln hindurch und verschränke beide Hände vor ihrem Brustbein. Beherzt hieve ich sie hoch. Ich stöhne. Es ist anstrengender als erwartet. Aber schließlich steht Agatha sicher auf beiden Beinen.

Sie wirkt erleichtert und lächelt mich sogar an. »Vielen Dank. Zum Glück waren Sie hier. Sonst würde ich noch liegen, bis der Arzt eintrifft.«

Das Stichwort greife ich auf. »Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist? Wir können gern gemeinsam auf den Krankenwagen warten.«

»Das ist unnötig.« Vehement schüttelt sie den Kopf, um ihre Antwort zu unterstreichen.

Womöglich macht sie sich Sorgen, was so eine Behandlung kosten würde. Viele Menschen haben keine Krankenversicherung.

Die junge Frau reicht der älteren Dame einen Beutel mit Einkäufen. »Den haben Sie vorhin fallen lassen.« Nun bückt sie sich nach einer Handtasche.

Agatha bemerkt erst jetzt die Sachen, die über den Boden verteilt liegen. »Oje, war ich das?«

Auch ich nehme erstmals Notiz von den Details. Bei einer der beiden Handtaschen ist der Trageriemen gerissen. Ein Päckchen Papiertaschentücher ist hinausgefallen, zudem ein Lippenstift von der gleichen Farbe, wie er die Lippen der jungen Frau schmückt. Aus einem Portemonnaie lugen Geldscheine hervor. Weitere Münzen sind über den Boden gerollt.

Mein blonder Engel reicht Agatha ihre Handtasche und drückt ihr aufmunternd die Schulter. »Das waren nicht Sie. Das war dieser Rüpel. Sehen Sie es positiv. Von diesem Abenteuer können Sie heute gleich Ihren Enkelkindern berichten.«

»Das werde ich auf jeden Fall.« Agatha lacht, bedankt sich zum gefühlt zehnten Mal bei uns und macht sich auf den Weg, langsam und etwas wackelig auf den Beinen, aber sichtlich erleichtert.

»Hey, was ist mit dem Krankenwagen?« Unruhig tritt der Mann von einem Bein aufs andere. »Sie kann doch nicht einfach gehen!«

»Ganz ruhig«, unterbreche ich ihn. »Ich bin mir sicher, hier wird auch anderswo eine helfende Hand benötigt.« Dabei denke ich an die zahlreichen Passanten, die von unserem Täter umgerannt wurden.

»Macht doch, was ihr wollt. Ich bezahle den jedenfalls nicht!« Wütend geht er davon.

Perplex schaue ich ihm hinterher und stelle fest, dass auch all die anderen Schaulustigen verschwunden sind. Wie immer, wenn es etwas zu helfen gibt. Noch während mein Mund vor sprachlosem Staunen leicht offen steht, höre ich ein wohlklingendes »Larissa«.

Ich wende mich der jungen Frau neben mir zu. Erwartungsvoll blickt sie mich an.

Inmitten einer Halle voller Händler und Passanten sind wir beide plötzlich unter uns. Ist das Schicksal? Zögerlich ergreife ich die mir dargebotene Hand. »Maxwell«, sage ich.

Als sich unsere Hände berühren, rechne ich beinahe mit einem kleinen Stromstoß. Stattdessen ist ihre Hand zart und warm und liegt geradezu perfekt in meiner größeren. Nur ungern lasse ich sie los.

Sie lächelt. »Ich weiß.«

Stimmt. Sie war dabei, als ich Agatha meinen Namen nannte. Abermals schafft sie es mit ihrem Lächeln, dass sich meine Mundwinkel heben. Ich schätze sie auf Mitte zwanzig. Trotz ihrer zierlichen Gestalt wirkt sie auf mich wie eine starke Persönlichkeit. Ich würde sie gern näher kennenlernen.

Als mir dieser Wunsch bewusst wird, fällt mir spontan das Atmen schwer. Mein Mund fühlt sich trocken an wie nach drei Tagen in der Wüste. Und mindestens ebenso sehr dürstet es mich nach ihr.

Reiß dich zusammen, Max!

Jetzt bückt sie sich und beginnt, sämtliche Utensilien einzusammeln und in ihre Handtasche zu stopfen.

Ich gehe in die Hocke und helfe ihr dabei.

»Das war nett von Ihnen«, sagt sie plötzlich.

Ich will gerade die letzten Münzen vom Boden lesen, da halte ich inne und schaue sie an. Offensichtlich erkennt sie die unausgesprochene Frage in meinen Augen.

»Dass Sie Agatha geholfen und ihr gut zugeredet haben. Die wenigsten Männer sind derart einfühlsam.«

Ich weiß nicht, mit welchen Kerlen sie bisher verkehrt ist. Zugleich stört mich die Vorstellung, dass sie überhaupt schon mit Kerlen zusammen war. In meinem Umfeld gibt es durchaus nette Menschen. Und nicht gerade wenige. Auch einfühlsame, wie sie so schön sagt. Andererseits habe auch ich Umgang mit Knallköpfen und ruppigen Typen. Das lässt sich kaum vermeiden in einem Job wie dem meinen. »Das war doch das Mindeste«, wiegele ich ab.

»Wenn Sie das sagen.« Sie klingt nicht überzeugt.

Nachdem sämtliche Gegenstände eingesammelt und sicher in ihrer Handtasche verstaut sind, erheben wir uns. Mit einem raschen Blick ringsum stelle ich fest, dass das Leben der anderen weitergegangen ist. Inzwischen ist auch ein Team von Rettungssanitätern eingetroffen und hilft in einiger Entfernung einem Mann auf die Trage.

Die Händlerin vom Obst- und Gemüsestand, bei dem wir stehen, sieht Larissa mitfühlend an. »Alles gut?«

»Es geht schon. Mich haut nichts so schnell um.«

Auf ihrem faltigen Gesicht zeigt sich ein breites Grinsen und offenbart zwei Zahnlücken. Sie reicht Larissa die Tüte mit dem Einkauf, die sie bis jetzt verwahrt hat, und nickt ihr aufmunternd zu.

»Danke, Li. Bis nächste Woche.«

Interessiert nehme ich diese Information zur Kenntnis. Die Kleine scheint hier Stammkundin zu sein. Während ich überlege, wie mir dieses Wissen zu einem Wiedersehen verhelfen kann, wendet sich Larissa mir zu.

Ich deute auf ihre kaputte Handtasche. »War das der Typ von vorhin?«

»Wie man es nimmt.« Sie zuckt die Schultern. »Er kam aus dem Nichts und verschwand genauso schnell. Aber als er auf unserer Höhe war, hat er Agatha beiseite gestoßen. Sie verlor das Gleichgewicht und hat sich Hilfe suchend an mich geklammert. Bevor ich überhaupt reagieren konnte, ist Agatha zu Boden gestürzt. Ich habe nicht auf die Tasche geachtet, war viel zu entsetzt, doch ich denke, dass dabei der Riemen gerissen ist.« Sie seufzt. »Wenigstens ist nichts Schlimmeres passiert.«

Mit jedem Wort, das ich höre, wächst in mir der Wunsch, von dem Übeltäter nicht nur eine Entschuldigung einzufordern, sondern auch Ersatz für ihre Tasche. Was mich daran erinnert, dass ich langsam zurück aufs Revier gehen sollte.

»Ich muss leider los, Maxwell. Es war schön, Sie kennenzulernen.« Sie betrachtet mich intensiv und ergänzt: »Vielleicht ist das Glück uns hold und wir treffen uns mal wieder?«

Ihre Augen leuchten fröhlich und laden mich geradezu ein, das Stichwort aufzugreifen.

Sofort reagiere ich. »Oder wir vertrauen weniger dem Zufall.« Ich ziehe mein Handy aus der Tasche. »Geben Sie mir Ihre Nummer, Larissa? Dann helfe ich unserem Glück auf die Sprünge.«

Spontan lächelt sie. Sie hat ein sonniges Gemüt. Genau das, was mein in letzter Zeit trübes Ich braucht.

»So gehen Sie also vor, Maxwell?« Sie schmunzelt, dann nennt sie mir eine Zahlenfolge.

Rasch tippe ich sie in meine Kontaktliste. Abschließend drücke ich auf die grüne Taste und die Verbindung baut sich auf. Es klingelt in ihrer Tasche. »Jetzt haben Sie auch meine Nummer. Am besten speichern Sie sie gleich ab, dann haben Sie keinen Grund, den Anruf wegen einer unbekannten Nummer zu ignorieren.« Ich grinse sie an.

»Glauben Sie mir, so häufig klingelt mein Telefon nicht. Ich hebe für jeden ab.«

»Das kann ich mir schwerlich vorstellen«, kontere ich. »Bei Ihrem Aussehen stecken Ihnen die Jungs sicherlich jeden Tag irgendeine Visitenkarte zu.«

Sie lacht auf, und das helle Geräusch hallt wohlklingend in meinen Ohren nach. »Sie haben ja eine sehr hohe Meinung von mir. Da Sie mir jedoch so tapfer zu Hilfe geeilt sind, verrate ich Ihnen etwas, Maxwell. Ich gebe meine Telefonnummer nur selten weiter. Vorwiegend an Männer in unsichtbarer Rüstung. Aber die sind rar.«

»Da habe ich also Glück gehabt. Ich war zur rechten Zeit am rechten Ort.«

Abermals ziert ein breites Lächeln ihr herzförmiges Gesicht. Lachfältchen bilden sich um ihre Augenwinkel. »Verkaufen Sie sich nicht unter Wert. Irgendetwas sagt mir, dass das genau Ihr Ding ist. Sie erkennen, wo Hilfe erforderlich ist, und packen an.«

Gern würde ich jetzt sie packen, sie näher ziehen und ihr einen Kuss aufdrücken. Doch nach so kurzer Bekanntschaft wäre das äußerst ungehörig. Ich blicke sie an, um mir ihre Gesichtszüge einzuprägen. Immerhin muss ich die nächsten Stunden, vielleicht gar Tage, ohne ihre Nähe auskommen. Allein der Gedanke lässt mich wehmütig werden. In diesem Moment weiß ich instinktiv, dass ich sie wiedersehen muss. Es ist ausgeschlossen, dass diese Begegnung eine einmalige Angelegenheit ist.

Larissa versprüht so viel Optimismus. Womöglich lerne ich durch sie, wie auch ich wieder unbändige Freude am Leben finden kann. Etwas, das mir seit dem Tod meines Vaters vor vier Jahren misslingt. Und vielleicht entdecken wir dabei sogar einige gemeinsame Interessen. »Passen Sie auf sich auf, Larissa.«

Die letzten drei Silben kommen mit Gefühl über meine Lippen. Es klingt gut, ihren Namen auszusprechen.

Sie lächelt mich abermals an. Dann wendet sie sich um und geht davon.

Nur mit Mühe halte ich mich davon ab, ihr hinterherzusehen. Ich möchte nicht als Stalker rüberkommen.

Ich mache mich nun ebenfalls auf den Weg, leider in die entgegengesetzte Richtung. Mit jedem Schritt entfernen wir uns mehr voneinander, und doch ist da dieser kleine Funke in mir, die Erinnerung an unsere Begegnung, die Hoffnung auf ein mögliches Wiedersehen, der mich von innen wärmt.

Das muntert mich auf.

Ich verfalle in einen zügigen Laufschritt. Zeit zum Essen bleibt mir leider nicht mehr. Die Abschlussbesprechung steht an, und der Chief wartet nicht gern.

Kapitel 2

Die Briefe in der einen Hand, die Einkaufstüte in der anderen steige ich die Stufen zu meiner Wohnung hinauf. Notdürftig habe ich die Handtasche unter meinen Arm geklemmt. Den Riemen konnte ich nicht reparieren. Hoffentlich stolpere ich nicht und muss dann meinen Einkäufen dabei zusehen, wie sie die Treppe hinunterrollen.

Die Haustür wird geöffnet und fällt kurz darauf ins Schloss. Zügig nähern sich Schritte.

Bitte, lass es nicht Alfred sein. Er wohnt eine Etage über mir und ist beinahe fünfzig. Stets begleitet ihn ein abstoßender Geruch nach Zigarrenrauch und Schweiß. Davon kann ich mich jedes Mal aufs Neue überzeugen, wenn er mich in ein Gespräch verwickelt und mir dabei auf unerwünschte Weise nahe kommt.

»Hey, Larissa! Kann ich dir beim Tragen helfen?«

Erleichtert atme ich auf und drehe mich um. Nicht Alfred, sondern mein Nachbar John steht wenige Stufen unter mir. Sein blondes Haar ist leicht zerwühlt, er trägt Sportkleidung und Turnschuhe. Offensichtlich war er joggen.

»Das ist lieb von dir. Danke schön.« Mit einem Lächeln überreiche ich ihm die Tüte mit meinen Einkäufen. »Dass du dafür noch Kraft erübrigen kannst, obwohl du gerade deine Runden im Park gedreht hast.«

John lächelt. »Eben weil ich regelmäßig jogge, bin ich so fit. Probiere es aus und begleite mich dabei.«

Ich lache kurz auf. »Lassen wir das lieber. Bei meiner Kondition müsstest du mich nach Hause tragen.«

»Das Risiko gehe ich ein.« Er grinst mich an, wird aber gleich darauf ernst. »Ich habe dich die letzten Tage nicht gesehen. Ist wohl wieder später geworden im Büro?«

Ich nicke, während ich mich umdrehe und vorangehe. »Zurzeit ist viel los. Der Terminkalender meines Chefs quillt über. Emily fehlt, denn ihr Sohn ist krank. Die Urkunden müssen trotzdem rechtzeitig aufgesetzt werden.«

»Also schiebst du Doppelschichten?«

Ich kann sein Missfallen deutlich heraushören und zucke nonchalant mit den Schultern. Wer soll die Arbeit denn sonst erledigen? Mehr Mitarbeiter hat die Kanzlei nicht.

»Lass dich nicht ausnutzen, Larissa.«

Ich schüttele sacht den Kopf. »Es gibt eben manchmal solche Wochen.«

»Wie auch letzte Woche und die davor?«

Auch wenn ich seine Miene nicht sehe, so ahne ich, dass er zweifelnd die Augenbrauen hebt. Vor jedem anderen würde ich eine Rechtfertigung verweigern. Aber John ist mehr als ein Nachbar. Er ist ein Freund. Stets verfügbar, wenn ich Hilfe benötige. Mehrfach schon hat er mit seinen handwerklichen Fähigkeiten geglänzt, wenn mal wieder etwas in meiner Wohnung kaputt gegangen ist. Und ich bin für ihn da, wenn ihm mal ein Lebensmittel ausgeht. Was öfter passiert, als man glauben mag. Nur ungern stoße ich ihn vor den Kopf. Also zucke ich abermals mit den Schultern. »Ich habe Zeit. Schließlich wartet zu Hause niemand auf mich.«

»Daran wird sich auch nichts ändern, solange du nur für die Arbeit lebst. Geh mal aus.«

Mein Herz macht einen Hüpfer bei der Vorstellung, mit einem netten Mann auszugehen. Etwas, das ich seit Jahren nicht getan habe. Ich halte inne und drehe mich lachend zu ihm um. »Ist das ein Angebot?« Es war ein Scherz, doch er zögert nur kurz.

Seine Mundwinkel verziehen sich zu einem charmanten Lächeln. »Würdest du denn eine Einladung von mir annehmen?«

Hitze schießt in meine Wangen, definitiv nicht wegen der Anstrengung des Treppensteigens. Damit hatte ich nicht gerechnet. »Vielleicht.« Ich wende mich ab und gehe weiter, bevor er bemerken kann, wie ich erröte. Ernsthaft überlege ich, ob ein Date mit ihm eine Option wäre. John ist Mitte dreißig und damit ein ganzes Stück älter als ich, aber das wäre für mich akzeptabel. Er ist Single und hatte bislang nur selten Frauen zu Besuch. Vor allem jedoch ist er mir sympathisch. Sportlich ist er auch und damit das komplette Gegenteil von mir. Ich bevorzuge ruhige Spaziergänge, zwischendurch genehmige ich mir auch gern ein Eis. Außerdem muss ich bedenken, dass wir nun einmal Nachbarn sind. Sollten wir eine Beziehung beginnen und sie geht schief, würden wir uns zwangsläufig weiter über den Weg laufen. Schon deswegen wäre es keine gute Idee. Mir jedenfalls wäre das unangenehm.

»Vielleicht?«, hakt er nach. »Nun denn, vielleicht komme ich darauf zurück.«

Ich kann das Lächeln in seinem Tonfall hören. Aufgrund meiner neu gewonnenen Erkenntnisse verkneife ich mir aber eine ermutigende Antwort.

In der vierten Etage angekommen, schließe ich meine Wohnungstür auf und stelle die Handtasche auf das Schränkchen im Flur. Die Briefe lege ich daneben. Dann wende ich mich John zu, der, beladen mit meinen Einkäufen, an der Wohnungstür wartet, lässig die Schulter gegen den Rahmen gelehnt.

»Danke fürs Helfen.« Ich nehme ihm die prall gefüllte Papiertüte ab.

»Immer gern, Larissa.« Er betrachtet mich länger, als es nötig wäre. Schließlich nickt er mir zu und geht die wenigen Schritte hinüber zu seiner Wohnung.

Leise schließe ich die Tür und lehne mich mit dem Rücken gegen das Holz. Was für ein Tag! Erst die Arbeit im Büro, wo sich die Akten türmen und das Telefon nie stillsteht. Glücklicherweise bin ich nur noch einen Tag vom Wochenende entfernt. Später die Aufregung beim Einkaufen. Der eisige Schreck, der mich durchfuhr, als jemand an meiner Tasche zog. Dann der Sturz der älteren Frau. Zum Glück hat sie es heil überstanden. Doch vor allem das Aufeinandertreffen mit diesem netten Kerl in der Markthalle hat mich leicht aus der Bahn geworfen. Maxwell.

Als ich die beiden Silben vor mich hin murmele, verzieht sich mein Mund zu einem Lächeln.

Was für ein Mann!

Maxwell sieht wirklich heiß aus mit seinem dunklen Kurzhaarschnitt und dem getrimmten Vollbart. Schöne Lippen hat er auch, nicht zu schmal. Sicher perfekt zum Küssen. Lächelnd schüttele ich den Kopf. Was habe ich nur für Gedanken?

Ich bin selbst erstaunt über mich. Normalerweise spreche ich keine fremden Männer an. Aber bei ihm war es mir geradezu ein Bedürfnis. Es wäre wirklich schade gewesen, die Chance verstreichen zu lassen, ihn wiederzusehen. Jetzt habe ich sogar seine Nummer. Dieser kleine Erfolg wärmt mich von innen und bringt mich zum Lächeln.

Gleich darauf seufze ich frustriert, als mir Johns Interesse an mir wieder einfällt. Bislang dachte ich, unsere Freundschaft wäre rein platonisch. Gerade jetzt wäre es mir lieb, wenn das so bleibt. Ich kann schlecht mit zwei Männern ausgehen.

Wie das klingt! Als würde mir die Männerwelt zu Füßen liegen. Dabei bin ich wirklich kein Model.

Zwar habe ich mit meinen zweiundsechzig Kilogramm auf einen Meter siebzig Idealmaße und betrachte mich durchaus gern im Spiegel. Dennoch würde mich niemand auf einem Laufsteg sehen wollen. Dafür sehe ich zu durchschnittlich aus.

Mein blondes Haar wellt sich beim leisesten Anflug von Feuchtigkeit, also auch, sobald ich nur leicht ins Schwitzen gerate. Ein Mann könnte meinen Busen für zu klein erachten, dafür sind die Hüften zu geschwungen. Trotz alledem sehe ich noch Chancen, einen Mann fürs Leben zu finden. Und der erste Schritt wurde heute getan. Denn Maxwells Vorschlag, die Telefonnummern auszutauschen, bedeutet doch hoffentlich, dass er mich anrufen und wiedersehen möchte?

Lange nachdem Johns Wohnungstür zugefallen ist, löse ich mich aus meinen Gedanken und verstaue die Einkäufe in den Küchenschränken. Danach schlüpfe ich in bequeme Kleidung.

In der Küche brate ich mir Paprika, Zucchini und Kartoffeln in einer Pfanne. Mit Zwiebeln und einer bunten Mischung an Gewürzen verfeinere ich das Ganze und überbacke es zum Schluss mit Käse. Ein Glas milder Weißwein verfeinert mein Abendessen.

Es ist ein Genuss!

Wenn ich schon allein lebe und die Freuden des Lebens mit niemandem teilen kann, dann möchte ich wenigstens meine Mahlzeiten genießen. Ich liebe gutes Essen.

Nachdem ich das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine geräumt habe, erinnere ich mich an die Briefe.

Als Erstes fällt meine Aufmerksamkeit auf die Handtasche im Flur. Ich betrachte sie näher. Entferne ich den Schulterriemen, könnte ich die Tasche dank der kleinen Tragehenkel vorerst weiter verwenden. Dennoch hat das Leder ein Loch. Vielleicht kann ich es flicken lassen, aber ein Schandfleck bliebe wohl zurück. Ich werde mich nach einer neuen Tasche umsehen müssen. Das ist ärgerlich, denn diese war kein Jahr alt.

Meist überlege ich zweimal, was ich mir von meinem Gehalt als Notarfachangestellte leisten kann, denn die Mieten in Seattle sind hoch. Am Monatsende bleibt kaum Geld übrig.

An dem Schreibpult in meinem Wohnzimmer öffne ich die Post. Eine Rechnung ist darunter und zwei Werbebriefe von Geschäften in der Stadt, die mir kräftige Rabatte für den nächsten Einkauf versprechen.

Der vierte Brief enthält weder einen Absender noch eine Briefmarke. Lediglich mein Name prangt in einer geschwungenen Handschrift darauf. Neugierig luge ich in den Umschlag.

Während ich zum Sofa hinübergehe, ziehe ich einen Zettel heraus und falte ihn auseinander. Nach nur wenigen Sekunden habe ich den Inhalt der Nachricht erfasst.

Mir wird übel.

In diesem Moment bin ich dankbar, bereits vor dem Sofa zu stehen. Meine Knie versagen mir den Dienst und ich plumpse wie ein Sack Kartoffeln auf das Polster.

Gib zurück, was dein Bruder gestohlen hat. Freitag, 9 Uhr, Spielplatz Denny Park. Keine Bullen! Sonst teilst du sein Schicksal.

Mir wird heiß und kalt zugleich. Meine Hände, die noch immer den Brief halten, beginnen unkontrolliert zu zittern. »O Robert, wo bist du da wieder hineingeraten?« Selbst meine Stimme zittert und ist schwach. Mein Atem geht abgehackt.

Innerlich überkommt mich Groll gegen meinen Bruder. Ständig bringt er sich in Schwierigkeiten. Mitunter auch mich. So wie jetzt. Ich will mir gar nicht vorstellen, was er diesmal angestellt hat.

Noch während ich ihn im Stillen verfluche, überkommt mich zugleich große Sorge. Das hier klingt nicht nach einem Scherz. Es klingt nach richtig großem Ärger. Nach Gefahr.

Schreckensszenarien schießen mir durch den Kopf. Mein Bruder, zusammengeschlagen und schwer verletzt, wie er sich humpelnd in Sicherheit bringt. Blutüberströmt in einer verlassenen Gasse liegend. Mit einer Schusswunde auf der Stirn, im Straßengraben entsorgt wie Müll.

Aufhören! Das ist nicht passiert. Definitiv nicht. Mein Bruder lebt! Ich bin seine Schwester. Ich wüsste doch, wenn ihm etwas geschehen wäre. Oder?

Ich sinke in mich zusammen. Denn tief im Herzen ahne ich, dass es ihm nicht gut geht. Robert meldet sich zwar selten bei mir und nur deswegen habe ich mir bislang keine Sorgen gemacht, obwohl es eine Weile ruhig um ihn war. Aber diese Zeilen schüren Ängste in mir, die ich längst vergessen glaubte.

Bereits einmal habe ich Familie verloren. Beide Elternteile am selben Tag. Ich darf Robert nicht auch noch verlieren. Er ist die einzige Familie, die mir bleibt.

Ohne ihn wäre ich ganz allein auf der Welt.

Allmählich füllen sich meine Augen mit Tränen. Bald darauf fließen sie die Wangen hinab, tropfen auf den Brief, den ich immer noch in Händen halte.

Es ist nicht nur die Angst um meinen Bruder, die diese Reaktion in mir auslöst. Es sind auch die Erinnerungen an die Nacht, als meine Eltern starben. Alles Schlechte, was seither passiert ist, kocht auf einmal wieder hoch. Der schreckliche Autounfall. Wie wir unser Zuhause verlassen mussten, mein Bruder und ich. Wie wir von einer Pflegefamilie in die nächste wechselten, überall nur auf Zwischenstation.

An jenem Tag verlor ich nicht nur meine Eltern. An jenem verfluchten Tag vor nunmehr zwanzig Jahren endete meine unbeschwerte Kindheit. Ich verlor das Urvertrauen, das jedes Kind in seine Eltern setzt in dem festen Glauben, sie könnten es vor jedem Übel beschützen. Und seit jenem Tag verlor ich Stück für Stück meinen großen Bruder, der den Verlust nicht verkraftete und zunehmend auf die schiefe Bahn geriet.

Seitdem versuche ich, das Beste aus jeder Situation zu machen. Ich schaue nach vorn, bin dankbar für das, was ich trotz allem erreicht habe. Ich denke möglichst selten an den Schicksalsschlag als solchen zurück, sondern sehe in all dem Erlebten etwas, aus dem ich fürs Leben lernen konnte. Nur so finde ich die Kraft, weiterzumachen.

Doch obwohl ich mich so sehr anstrenge, passiert jetzt womöglich die nächste Katastrophe in meinem Leben. Wieso? Warum geschieht das immer mir?

Meine Gedanken kreisen nur um ein Thema. Meinen Bruder.

Was meint der Absender mit: Sonst teilst du sein Schicksal?

Ist er verletzt? Werde ich meinen Bruder wiedersehen? Was kann ich tun, um ihm zu helfen? Kann ich überhaupt etwas tun? Vor allem aber grübele ich über die andere Aussage des Drohbriefes nach. Der Absender will etwas zurück, von dem er glaubt, dass ich es habe.

Bloß habe ich nichts! Seit Wochen habe ich Robert nicht gesehen. Er hat mir weder Briefe geschickt noch kam ein Anruf. Was genau wollen sie also?

Eine Nachricht, einen USB-Stick, den Schlüssel für ein Bankschließfach? Oder etwas viel Größeres wie einen geraubten Goldschatz?

Ich weiß weder, was ich zurückgeben soll, noch kann ich morgen früh in den Denny Park gehen. Zum einen habe ich keine Ahnung, wer mich dort erwartet. Wird man mir wehtun? Mich zusammenschlagen oder Schlimmeres, weil ich mit leeren Händen auftauche? Ich bin doch nicht lebensmüde!

Zum anderen muss ich zur Arbeit. Da Emily fehlt, umso mehr. Niemand kann im Notariat für mich einspringen. Wenn auch ich ausfalle, bin ich den Job los. Doch auf diesen Verdienst bin ich dringend angewiesen.

Wie nur kann ich das dem Absender des Drohschreibens mitteilen? Hier steht nicht einmal eine Telefonnummer dabei. Ich mag mir nicht vorstellen, was sie erst meinem Bruder angetan haben. Die Antwort darauf könnte ich morgen erfahren – sofern ich am Treffpunkt auftauche, aber ich habe schlicht und ergreifend Angst!

Abermals kullern meine Tränen.

Das Atmen fällt mir schwer, als laste ein unsichtbares Gewicht auf meiner Brust. Mehrmals schnäuze ich mich aus, doch so befreit, wie meine Nase hinterher ist, ist meine Seele noch lange nicht.

In dieser Nacht finde ich erst sehr spät Schlaf.

***

Der nächste Vormittag schleppt sich dahin. Da Emily weiterhin fehlt, arbeite ich für zwei.

Andauernd geht mir der Drohbrief durch den Kopf und die Sorgen, die ich mir um meinen Bruder mache. Es fällt mir schwer, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Immer wieder schaue ich auf die Uhr. Der Zeiger nähert sich der Neun. Mit einem Taxi könnte ich es noch schaffen, zum Treffpunkt zu gelangen.

Doch ich bin zu feige.

Meine gute Laune vom Vortag ist wie weggeblasen. Auch mein Chef hat schlechte Laune. Mangels Alternativen bin ich das Ziel seines Ärgers. Erst war angeblich der Kaffee zu dünn. Dann hat sich ein Fehler in die Urkunde geschlichen. Dabei habe ich sie genau so vorbereitet, wie er es diktiert hat.

Es fällt mir schwer, freundlich zu bleiben. Meine Gedanken drehen sich permanent um das Verschwinden meines Bruders und darum, was das für Folgen für mich haben wird. Trotzdem bemühe ich mich, ordentliche Arbeit abzuliefern. Es wäre höchst unprofessionell, meine privaten Sorgen an meinem Arbeitsplatz auszuleben.

Ich atme tief durch, bevor ich mit dem korrigierten Papier erneut zu meinem Chef gehe.

»Das nächste Mal klopfen Sie bitte an, Miss Baker. Erst vor fünf Minuten habe ich das Hemd gewechselt. Was, wenn Sie ausgerechnet da in mein Büro geplatzt wären?«

Die bloße Vorstellung ist mir unangenehm. Ich gebe ihm die Urkunde für seinen nächsten Termin, ohne eine Miene zu verziehen. Einen Kommentar kann ich mir dennoch nicht verkneifen.

»Ich habe geklopft, Sir. Das nächste Mal werde ich mehr Lärm verursachen.«

Er sieht mich unter erhobenen Brauen an, mustert mich wie ein Oberlehrer den größten Flegel seiner Schule. »Werden Sie nicht frech. Auch Sie sind ersetzbar.«

Im Moment bin ich das nicht. Ich schaue ihm selbstbewusst in die Augen. Ohne mich säße er allein hier und wäre bereits mit der Bedienung des Kaffee-Vollautomaten überfordert. Und das weiß auch er.

Doch plötzlich erinnere ich mich, dass wir früher zu viert im Büro gearbeitet haben. Eine Kündigung ist schnell ausgesprochen. Selbst wenn er diese hinterher bereuen würde, so säße ich ohne Job da. Ich gebe klein bei. »Verzeihen Sie, Mister Robinson.«

Die Erkenntnis, dass nichts im Leben garantiert ist, auch nicht dieser Job, lässt mich zurückrudern. »Ich werde noch mal Kaffee bringen, sobald Mister Johnson eingetroffen ist.« Das ist unser nächster Kunde und zugleich der letzte vor der einstündigen Mittagspause, auf die mein Chef täglich Wert legt.

»Lassen Sie mal. Der alte Geizkragen hat die letzte Rechnung erst mit Verspätung bezahlt. Ihm müssen wir nicht auch noch unseren guten Kaffee hinterherwerfen.«

Der Kaffee ist also doch nicht so schlecht, wie er ihn heute Morgen noch geredet hat. »Und dennoch könnte ein guter Service ihn dazu bringen, die nächste Rechnung pünktlich zu begleichen, Sir.«

Mein Chef seufzt. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können.«

Zufrieden wende ich mich ab und setze mich an meinen Schreibtisch im Vorraum des Notarbüros.

Bald darauf betritt Derek Johnson unsere Räume, ein Stammkunde. Sein Vermögen hat er sich zeitlebens als Unternehmer in der Lebensmittelbranche erwirtschaftet. Entsprechend häufig investiert er in Immobilien. Heute jedoch steht kein Kauf an, sondern ein Beratungsgespräch, denn er möchte demnächst die Anteile an seiner Firma auf seinen Enkelsohn übertragen lassen.

»Miss Baker, auf Sie freue ich mich bei jedem Besuch am meisten.«

»Sie sind ein Charmeur, Mister Johnson.« Lächelnd erhebe ich mich und reiche ihm die Hand.

»Wenn man so alt ist wie ich, darf man sich manche Freiheit erlauben.« Er lacht leise. »Man weiß schließlich nie, wann man abtreten muss, nicht wahr?«

Dankend nehme ich die Schachtel Pralinen entgegen, die er für mich mitgebracht hat, und lege sie auf meinen Tisch. »Sagen Sie so etwas nicht. Ich bin mir sicher, Sie werden uns alle überleben.« Zwar ist das eher unwahrscheinlich, denn Derek Johnson geht straff auf die neunzig zu. Aber das herzliche Lächeln, das er mir für meinen Kommentar schenkt, ist die Flunkerei wert.

Als auch sein Enkelsohn eintrifft, klopfe ich abermals an die Tür meines Chefs, lauter diesmal, und kündige die beiden Herren an.

Spätestens, als die Männer über dem Entwurf der Urkunde sitzen und dabei den frisch gebrühten Kaffee sowie ein paar Kekse genießen, hat auch Mister Robinson seinen Groll vergessen. Immer wieder höre ich sie lachen.

Jetzt, da um mich herum etwas Ruhe einkehrt, driften meine Gedanken ab. Ich weiß immer noch nicht, wie ich mit der unerwarteten Situation umgehen soll.

Ich bin heute früh nicht in den Denny Park gegangen.

Vermutlich hätte ich mit der Person sowieso nicht vernünftig reden können. Vielleicht hätte man mich zusammengeschlagen, verstümmelt oder gar entführt? Den Ärger darüber, weil ich mit leeren Händen dort aufgetaucht wäre, hätte der Absender des Briefes gewiss nicht auf sich sitzen lassen. Allerdings plagen mich nun umso mehr Gedanken, ob ich damit meinen Bruder im Stich gelassen habe. Hätte es einen Unterschied gemacht, wenn ich hingegangen wäre? Ohne Informationen, worum es geht? Ohne das gesuchte Objekt?

Hätte ich Antworten erhalten? Wonach genau sie suchen? Und was sie über den Verbleib meines Bruders wissen?

Gern hätte ich eine Glaskugel, die mir zeigt, welche Entscheidung ich zu treffen habe, um meinem Bruder zu helfen. Mehrfach habe ich versucht, ihn anzurufen. Ich wollte ein Lebenszeichen von ihm. Immer in der Hoffnung, herauszufinden, alles wäre okay und das hier nur ein böser Scherz.

Aber sein Handy ist ausgeschaltet. Oder es hat keinen Empfang. Er ist unerreichbar. Abermals blicke ich auf mein Smartphone. Meine Textnachrichten an ihn wurden nach wie vor nicht zugestellt. Es ist beinahe, als wäre Robert oder zumindest sein Handy in einem Funkloch verschwunden.

Oder tot.

Der Akku, nicht mein Bruder.

Kurz habe ich sogar überlegt, zur Polizei zu gehen – trotz der Warnung in dem Brief. Aber wie sollte sie helfen? Man würde doch eh nichts unternehmen.

Ich habe gehört, die suchen Vermisste erst nach achtundvierzig Stunden. Bei meinem Bruder würden sie sich die Mühe wohl selbst dann sparen, wenn die Zeit bereits um wäre. Er hat keinen festen Wohnsitz. Ist mal hier zu Hause, mal dort, je nachdem, bei welchem Kumpel gerade ein Schlafplatz verfügbar ist.

Er ist Mitglied einer Straßengang und war deswegen auch das eine oder andere Mal zu Gast im Knast. Nur vorübergehend, während der Ermittlungen. Nie hat es für eine Verurteilung gereicht. Immer hat ihn einer seiner Kumpels rausgeboxt.

Keine Ahnung, wie. Aber wenn sie das hinbekommen, werden sie ordentlich Einfluss auf die hiesige Obrigkeit haben.

Ich will damit nichts zu tun haben. Deswegen habe ich nie nach Details gefragt. Geht mich nichts an, in was für krumme Geschäfte Robert verwickelt ist oder mit welchen Leuten er genau zu tun hat. Wobei das Wissen hierüber jetzt sehr hilfreich wäre.

Im Geiste gehe ich alle Hinweise durch, die mir Robert im Laufe der letzten Jahre gegeben hat. Fallen mir Namen von Leuten ein, denen er etwas schuldig ist? Freunde, die ich nach seinem Verbleib befragen könnte? Orte, an denen ich mit meiner Suche nach ihm beginnen könnte?

Da sind nur Bruchstücke in meinem Kopf. Meist waren wir unter uns, mein Bruder und ich. Wir haben uns in Cafés getroffen, in Parks, ganz selten auch in meiner Wohnung.

Lediglich einen seiner Kumpels habe ich mal persönlich kennengelernt. Die Erinnerung an ihn beschert mir noch heute Gänsehaut.

Logan Benetton.

Ein Mann, der weiß, was er will, und der sich nimmt, was er will. Eine Zeit lang glaubte er tatsächlich, ich wäre das Objekt seiner Begierde. Es hat mich starke Nerven gekostet, ihm zu vermitteln, dass ich nicht interessiert bin.

Benetton hat Geld wie Heu und eine Villa am Stadtrand. Außerdem beehrt er unser Notariat immer dann, wenn er ein Immobiliengeschäft abwickeln möchte. Mein Bruder hat uns damals miteinander bekannt gemacht und ich ihn mit meinem Chef.

Heute bereue ich das.

Ich denke, sein Reichtum entspringt keiner ehrlichen Arbeit. Dass er mit meinem Bruder abhing, bestärkt mich in dem Glauben. Dieser Mann hat Dreck am Stecken. Mit solchen Leuten möchte ich nichts zu tun haben.

Und da mein Bruder mit ebensolchen Typen abhängt, wird sich für ihn kein Polizist ein Bein ausreißen.

Bedeutet: Wenn ich meinen Bruder nicht suche, tut es niemand.

Ich seufze. Es fühlt sich an, als hätte man mir die Hände gebunden und den Kopf mit Watte ausgestopft. Ich bin zu kaum einem klaren Gedanken fähig. Wie nur soll ich Robert finden? Wie kann ich ihn aus seiner Misere retten? Einzig, dass es noch jemanden zu retten gibt, davon bin ich überzeugt.

Abermals blicke ich auf die Uhr. Es ist gleich Mittag. Die Zeit des Treffens ist längst vorbei. Dass ich mich nicht nur verspäte, sondern kneife, sollte der Absender inzwischen verstanden haben.

Dennoch hat sich bisher niemand bei mir gemeldet. Einerseits werden sie meine Handynummer nicht kennen. Andererseits werden sie nicht wissen, wo ich arbeite. Gut möglich erwartet mich aber zu Hause eine weitere Nachricht.

Ich traue mich nicht zurück in die Wohnung. Woher haben die Typen überhaupt meine Adresse? Robert wird sie ihnen kaum verraten haben.

Ich seufze leise.

Während ich – mehr oder weniger konzentriert – die nächste Urkunde vorbereite, öffnet sich die Tür. Wir arbeiten auf Terminbasis und der letzte Termin für diesen Vormittag sitzt derzeit in Mister Robinsons Büro. Ich hebe den Kopf, um den Ankömmling auf genau das hinzuweisen. Da versagt mir die Stimme.

»Hey, Larissa. Ich habe gehofft, dich wiederzusehen.«

Wenn man vom Teufel spricht.

Vor mir steht Logan Benetton.

Verdammt.

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